Rationality as
Pragmatic Worldly Prudence:
Kant’s Anthropology
and the Modern Social Sciences
DFG Project, May 2021 – April 2024
Goethe University Frankfurt, Institute of Philosophy
Chair of Modern Philosophy (Prof. Dr. Marcus Willaschek)
Interview mit Prof. Dr. Werner Stark
TeamSocialRationality: Was hat Sie dazu bewegt, den größten Teil Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn dem Studium der Entstehungsgeschichte von Kants Ideen und Werken zu widmen? Welchen Einfluss hatte dieses Studium auf Ihre eigenen Ansichten?
Werner Stark: Zu Beginn der 1980er Jahre haben glückliche Umstände mich näher an die Erforschung von Kant’s Leben und Lehre herangeführt. Ein anfängliches Promotionsvorhaben zur systematischen Entwicklung seiner Moralphilosophie ging allmählich über in historische Recherchen mannigfaltiger Art. Nach 1945 hatte auch unter Philosophen vom Fach ein Wissen um und über die ›um 1900‹ bekannten Handschriften von Immanuel Kant selbst und den Quellen zu seinem intellektuellen Umfeld im Königsberg des 18ten Jahrhunderts dramatisch an Substanz verloren. Während dieser Art Nachforschungen und meiner eher en passant intensiver werdenden Kenntnissen über Kant’s akademische Lehre und seine damit stets verbundenen philosophischen Schriften, reifte die mich anfänglich überraschende Einsicht, daß Kant ein Intellektueller seiner Zeit war. Nicht nur die Handelsbeziehungen seiner Heimatstadt Königsberg waren eher auf Europa, (insbesondere Großbritannien) gerichtet, als gewachsen aus einer vorgeblich primär mit den Namen Leibniz und Christian Wolff belegten Tradition der Metaphysik. Französisch und Englisch geschriebene Werke besaßen wenigstens das gleiche Gewicht. Dem steht nicht entgegen, daß Kant keine dieser beiden europäischen Sprachen beherrschte; bei Ausnahme der lateinischen akademischen Pflichtpublikationen hat er die eignen Werke stets in deutscher Sprache geschrieben – eben der Sprache, in der ihm auch Werke von z. B. David Hume und Jean-Jacques Rousseau zugänglich waren.
TeamSocialRationality: Welche Stellung nimmt Ihrer Meinung nach die pragmatische Anthropologie in Kants philosophischem System ein?
Werner Stark: Die ›pragmatische Anthropologie‹ in Gestalt der 1798 publizierten Fassung steht beinahe unvermittelt neben einer mit den drei Kritiken der Jahre 1781 bis 1790 ausgebildeten Systematik, wie dies bei der ›Vorlesung über Physische Geographie‹ ganz offensichtlich ist. Beide Vorlesungen hat Kant – auch historisch gesehen – unabhängig von seiner ›Kritischen Philosophie‹ konzipiert; ganz wie dies in dem letzten seiner Vorlesungsprogramme, zum Sommersemester 1775, formuliert ist.
TeamSocialRationality: Worin sehen Sie die zentralen philosophischen Vorteile und Defizite von Kants pragmatischer Anthropologie?
Werner Stark: Die 1798 publizierte Schrift verzichtet, wie zahlreiche studentische Nachschriften der ab dem Winter 1772/73 gehaltenen Vorlesung belegen, weitgehend auf systematische Ansprüche. Freilich sind beide – Vorlesung und Publikation – von besonderer Relevanz für jede Moralphilosophie. Das von Kant allenfalls in Ansätzen ausformulierte Bindeglied zwischen ›Anthropologie‹ einerseits und ›Ethik‹ oder ›Recht‹ andererseits könnte – nach meiner Auffassung – mit ›Erziehung des Menschen‹ und ›Entwicklung des Menschengeschlechts‹ einigermaßen passend umschrieben werden.
TeamSocialRationality: An welchen philosophischen Vorgängern hat sich Kant aus Ihrer Sicht bei der Ausarbeitung seiner anthropologischen Ideen orientiert?
Werner Stark: Die Frage nach Vorgängern läßt sich, wie in der vorherigen Frage schon angedeutet, kaum klar beantworten; denn es gilt, formale von Inhaltlichen Gesichtspunkten zu trennen. Die ›empirische Psychologie‹ von A. G. Baumgarten’s ›Metaphysica‹ liefert für den ersten Teil der Vorlesung (und noch des Kantischen Buches) die Form der Darstellung, die Inhalte sind hingegen eher aus Großbritannien und Frank reich importiert.
TeamSocialRationality: In welcher Beziehung steht Kants physische Geographie zu seiner pragmatischen Anthropologie?
Werner Stark: Beide Vorlesungen sind auf unterschiedliche Gegenstände gerichtet: Mensch und Natur (sc. die Erde). Die Grundhaltung des Vortrags ist dennoch identisch: Lehre! Kant macht seine Studenten bekannt mit Einzelheiten und allgemeinen Phänomenen aus beiden Bereichen des Wissens.
TeamSocialRationality: Welches Orientierungswissen wäre für uns aus Kants Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ zu gewinnen?
Werner Stark: Die aus heutiger Sicht einfache, jedoch wegweisende Differenz zwischen ›Mensch‹ und ›Natur‹ wird mit Bezug auf den Begriff ›Freiheit‹ bestimmt: Es ist nicht die Natur, die die Menschen ›gleich‹ macht, sondern nur unter der Bedingung der ›Freiheit‹ sind alle Menschen einander ›gleich‹, nämlich als Subjekte ihrer Handlungen. Mit solchen ›aus Freiheit‹ erfolgten Handlungen überschreitet der Mensch die Schranken (sc. die Notwendigkeiten) natürlicher Abläufe. D. h. ihre Handlungen können einer moralischen und/oder rechtlichen Bewertung durch andere unterworfen werden. – Die im Zuge der ›Französischen Revolution‹ erfolgte Deklaration allgemeiner Menschenrechte stimmt damit im Kern überein.
TeamSocialRationality: Inwiefern als Subjekte es berechtigt, vor allem Kants anthropologischen und gesellschaftspolitischen Ideen Einfluss auf die Genese und die frühe Entwicklungsphase der Sozialwissenschaften zuzuschreiben?
Werner Stark: Die Frage kann ich nicht beantworten; eine Nähe zur englischsprachigen (schottischen) Aufklärung steht – genetisch gesehen – außer Frage.
TeamSocialRationality: Was könnte Kants Philosophie zur zukünftigen Weiterentwicklung des Projektes der Aufklärung beitragen? Haben die Ideen der Aufklärung noch ihre Bedeutung?
Werner Stark: a) möglicher Beitrag: Ich neige dazu, nicht von ›Kant’s Philosophie‹ zu sprechen, denn diese hat sich im Laufe der Jahre zwischen 1755 und 1798 ohne Zweifel gewandelt. Ein Studium Kantischer Schriften, die Lektüre seiner Vorlesungen kann vor allem in Verbindung mit den Bestrebungen seiner Zeitgenossen mithelfen, die philosophischen (insbesondere begrifflichen) Grundlagen einer Moral- und Rechtsphilosophie aufzuklären.
b) Bedeutung der Ideen: Vielleicht ist es letztlich nur eine ›Idee‹ im Kantischen Sinn, nämlich ›Freiheit‹.
Werner Stark ist Honorarprofessor an der Philipps-Universität Marburg. Er war Mitherausgeber (mit Reinhard Brandt) des Bandes zur Anthropologie (Bd. 25) der Akademie-Ausgabe und Herausgeber (in Zusammenarbeit mit Brandt) des Bandes zur Physischen Geographie (Bd. 26). Er hat außerdem digitale Transkriptionen zahlreicher Vorlesungsskripte erstellt und online veröffentlicht. Er hat die Studententranskriptionen aus Kants Ethikkurs „Vorlesung zur Moralphilosophie“ (Walter de Gruyter, 2004) herausgegeben und ist Autor von Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants (Akademie Verlag, 1993). Er hat zahlreiche Artikel und Bücher zu Kants veröffentlichten Werken, Briefen, Notizen und Vorträgen in ihrem philosophischen und institutionellen Kontext geschrieben und herausgegeben.