Rationality as

Pragmatic Worldly Prudence:

Kant’s Anthropology

and the Modern Social Sciences

DFG Project, May 2021 – April 2024

Goethe University Frankfurt, Institute of Philosophy

Chair of Modern Philosophy (Prof. Dr. Marcus Willaschek)

Interview mit Prof. Dr. Marcus Willaschek

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TeamSocialRationality: Welchen Einfluss hat Kants Philosophie auf Ihre eigenen Forschungen gehabt?

Marcus Willaschek: Auch wenn ich mich selbst nicht als „Kantianer“ bezeichnen würde, hat Kants Philosophie meine eigenen philosophischen Überlegungen zutiefst beeinflusst und geprägt. So knüpfen meine Beiträge über Willensfreiheit und Verantwortung ebenso an kantische Ideen an wie  meine aktuellen Arbeiten über Subjektivität und Endlichkeit. Dabei verbinde ich die inhaltlichen Einflüsse Kants mit einer methodischen Orientierung an der sogenannten „Analytischen Philosophie“ (vor allem im Bemühen um begriffliche Klarheit und argumentative Transparenz) und mit einer im weitesten Sinn pragmatistischen Haltung, die philosophische Begriffe als historisch wandelbare Instrumente der Problemlösung versteht. (Natürlich stehen der Pragmatismus und die frühe Analytische Philosophie, letztere vermittelt durch den Neukantianismus, ihrerseits in der Tradition Kants.)  

 

TeamSocialRationality: Können wir, aus Ihrer Sicht, von Kants Einfluss auf den philosophischen Pragmatismus sprechen?

Marcus Willaschek: Auf jeden Fall! Da ist zum einen der unmittelbare historische Einfluss Kants auf den Begründer des amerikanischen Pragmatismus, Charles Sanders Peirce. Peirce übernimmt den Ausdruck „pragmatisch“ ja direkt von Kant. Und die für den Pragmatismus grundlegende Konzeption des Glaubens (belief) als Verhaltensdisposition ist durch Kants Begriff des Glaubens als einer handlungsbezogenen Form des Fürwahrhaltens inspiriert. Auch William James‘ pragmatistische Verteidigung des religiösen Glaubens scheint, zumindest indirekt, durch Kants Postulatenlehre beeinflusst zu sein. Aber auch unabhängig von solchen direkten und indirekten Einflüssen besteht eine große Affinität zwischen Kants Philosophieverständnis mit seiner Betonung der pragmatischen oder weltbürgerlichen Relevanz der Philosophie und dem Pragmatismus.

 

TeamSocialRationality: Wie würden Sie die heutige Relevanz von Kants Kritik und Verteidigung der Vernunft einschätzen? Ob man bei Kant zumindest in impliziter Form von der Idee der pragmatischen Vernunft sprechen kann?

Marcus Willaschek: In einer Zeit umsichgreifender Irrationalismen einerseits und eines naiven Vertrauens auf eigene, scheinbar rationale Überzeugungen andererseits ist Kants eindrucksvolle Verbindung von Vernunftkritik und Vernunftvertrauen von unverminderter Wichtigkeit. So appellieren populistische Politiker:innen an Ressentiments und Vorurteile in der Bevölkerung, während sogenannte „Querdenker“ sich Urteile über wissenschaftliche Theorien anmaßen, die sie nicht verstanden haben. Von Kant können wir einerseits lernen, dass nicht alles, was uns als rational erscheint, auch wirklich vernünftig begründet ist, und die Vernunft daher einer selbstkritischen Prüfung bedarf und ihre eigenen Grenzen erkennen muss. Andererseits macht Kant aber auch klar, dass nur die Vernunft selbst (das an vernünftigen Gründen orientierte Denken) eine solche Kritik vornehmen und uns im Denken, wie Kant sagt, „Orientierung“ geben kann. Dabei hat die Vernunft Kant zufolge auch einen pragmatischen Aspekt, der auf die effiziente Realisierung der als vernünftig erkannten Ziele gerichtet ist. Aber bekanntlich erschöpft sich die Vernunft Kant zufolge nicht darin, sondern enthält mit dem kategorischen Imperativ bzw. dem Moralgesetz auch einen Maßstab dafür, welche Ziele wir vernünftigerweise anstreben sollten.

 

TeamSocialRationality: Welches Orientierungswissen wäre für uns aus Kants Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ zu gewinnen?

Marcus Willaschek: Meiner Auffassung nach zielt die kantische Frage „Was ist der Mensch?“ nicht auf eine Definition oder Wesensbestimmung des Menschen ab, sondern auf das, was man in Kants Zeit (mit Johann Joachim Spalding) als die „Bestimmung des Menschen“ bezeichnete: den Sinn und das Ziel menschlicher Existenz. Zwei Aspekte der kantischen Antwort auf diese Frage sind über alle philosophischen Dispute hinweg bedeutsam: Erstens besteht Kant darauf, dass uns Menschen unsere „Bestimmung“ nicht von außen, etwa von religiösen Autoritäten oder gesellschaftlichen Konventionen vorgegeben ist, sondern wir sie (als Gattung wie als Individuum) aus uns selbst schöpfen, wir uns unseren „Charakter“ selbst bestimmen müssen. Und zweitens muss sich diese Selbstbestimmung an vernünftigen Prinzipien, nach Kant also letztlich am Moralgesetz orientieren. Das bedeutet im Kern, dass wir als Menschen dazu verpflichtet sind, die Würde und die Rechte aller Menschen zu respektieren und zu einer politischen Ordnung beizutragen, in der diese Rechte effektiv geschützt sind. Nach Kants überzeugender Einsicht ist das nur in einer globalen Föderation von freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten der Fall, die weltweit den Frieden sichert. Das, so meine ich, ist Kants bis heute bedeutsame Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“

 

TeamSocialRationality: Was könnte Kants Philosophie zur zukünftigen Weiterentwicklung des Projektes der Aufklärung beitragen? Haben die Ideen der Aufklärung noch ihre Bedeutung?

Marcus Willaschek: Viele der Leitideen der Aufklärung haben eine bleibende Bedeutung: Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Öffentlichkeit, Frieden, Wissenschaft, Bildung, um nur einige zu nennen. Doch sind diese Ideen bis heute nicht vollständig umgesetzt und gegenwärtig sogar zunehmend gefährdet. Kants Philosophie hat Wesentliches zur philosophischen Entwicklung dieser Ideen beigetragen und kann uns daher auch helfen, sie angemessen zu realisieren und gegen Angriffe zu verteidigen. So kann Kants Vernunftkritik, wie oben bereits angedeutet, einen Beitrag zu einem angemessenen Verständnis von Wissenschaftlichkeit und einem konstruktiven öffentlichen Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen leisten. Kants freiheitstheoretische Begründung des Rechts (Recht als Einschränkung der Freiheit aller zum Schutz der Freiheit jedes Einzelnen) kann dazu beitragen, politische Angriffe auf das Ideal der Rechtsstaatlichkeit abzuwehren, wie wir sie in vielen Staaten erleben. Und Kants Verbindung von anthropologischem Realismus (der Mensch als „krummes Holz“, aus dem „nichts ganz Gerades“ gezimmert werden kann) mit der kategorischen Forderung an die Politik, sich an moralischen Werten zu orientieren, kann uns darin bestärken, auch scheinbar utopische Ziele wie den „ewigen Frieden“ und eine (klima)gerechte Welt gegen alle Widerstände weiterzuverfolgen. 

 

TeamSocialRationality: Wie beurteilen Sie Kants Kosmopolitismus in seinen unterschiedlichen Aspekten? Wie aktuell ist heute Kants Kosmopolitismus aus Ihrer Sicht?

Marcus Willaschek: Kants Kosmopolitismus umfasst drei Ebenen: eine moralische, eine rechtliche und eine politische. Auf der grundlegenden moralischen Ebene besagt er, dass alle Menschen Mitglieder einer umfassenden moralischen Gemeinschaft sind, eines „Reichs der Zwecke“. In rechtlicher Hinsicht handelt es sich um Kants wegweisende Idee eines Weltbürgerrechts, also eines Rechts jedes Menschen gegenüber fremden Staaten. Es geht dabei nach Kant zwar vor allem um ein bloßes Besuchsrecht, das aber ein Asylrecht miteinschließt, falls einer schutzsuchenden Person bei Abweisung der „Untergang“ droht. Auf der politischen Ebene ist das Ziel eine föderale Weltfriedensordnung, die die Rechte aller Menschen effektiv schützen kann. Kann es in der heutigen weltpolitischen Lage etwas Aktuelleres geben als Kants Kosmopolitismus?

 

TeamSocialRationality: Sind aus Ihrer Sicht Kants anthropologische Ideen auch für gegenwärtige soziale bzw. politische Praktiken relevant?

Marcus Willaschek: Zu Kants „anthropologischen Ideen“ gehört zweifellos auch sein Begriff der Menschenrassen und die Rassenhierarchie, die Kant über Jahrzehnte in seinen Vorlesungen gelehrt hat. Diese Vorstellungen sind heute noch relevant, wenn auch in negativer Hinsicht: Unsere modernen Gesellschaften sind leider immer noch in vielen Hinsichten von rassistischen Stereotypen geprägt. Zu deren Überwindung gehört, neben vielem anderen, auch eine kritische Auseinandersetzung mit Kants Theorie der Menschenrassen und ihrer Rezeptionsgeschichte sowie Kants rassistischen Äußerungen. Aber diese Äußerungen sind natürlich nicht repräsentativ für Kants Denken insgesamt, sondern widersprechen einigen der Grundeinsichten seiner eigenen Philosophie (wie seinem universalistischen Kosmopolitismus). – In ganz anderer, positiver Weise relevant scheint mit Kants kritische Einschätzung menschlicher Fähigkeiten, Motive und Verhaltensweisen. Hier berührt sich Kants Anthropologie mit modernen Ansätzen wie der psychologischen Erforschung kognitiver Verzerrungen (biases) und kann uns helfen, mit unseren zum Teil irrationalen Vorurteilen und stereotypen Wahrnehmungsmustern rational umzugehen.

 

Marcus Willaschek (geboren 1962 in Arnsberg) ist Professor für Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Als Vorsitzender der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Projektleiter ist er mitverantwortlich für die Akademieausgabe der Schriften Kants. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: “Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant” (1992), “Der mentale Zugang zur Welt: Realismus, Skeptizismus, Intentionalität” (2003), “Kant-Lexikon” (3 Bde., 2015), “Kant on the Sources of Metaphysics” (2018) und “Kant: Die Revolution des Denkens“ (2023)

© Alexey Salikov, Thomas Sturm, Alexey Zhavoronkov 2022-2024